Regierung stuft Krankenkassenreform 2019 als “ Mut zur Veränderung“ ein
Die türkis- blaue österreichische Bundesregierung feiert die Krankenkassenreform, die seit Beginn des Jahres 2019 in Kraft getreten ist als “ Leuchtturmprojekt“, das für eine Harmonisierung der Krankenkassenleistungen und signifikante Einsparungen im Bundeshaushalt sorgen soll.
Zusammenlegung der Krankenkassen in Österreich 2019 geplant
Durch die Krankenkassen- Zusammenlegung sollen mit Hilfe von Synergieeffekten im Back-Office- Segment und einer Personalreduktion bei den Versicherern bis zum Jahre 2023 eine Milliarde Euro bzw. zum Jahr 2026 weitere 350 Millionen eingespart werden können.
Die Regierungsparteien FPÖ und ÖVP klassifizieren diese Einsparungen als “ Patientenmilliarde“ und streben mit der Reform eine Neuordnung des österreichischen Krankenkassensystems an. Durch die Maßnahme sollen Versicherte gleiche Leistung für gleiche Beitragszahlungen erhalten.
Nach Auffassung des Vize- Kanzlers Strache personifiziert die Reform “ Mut zur Veränderung“. Diesen Mut hätten bisherige Vorgängerregierungen allesamt vermissen lassen, so Strache. Demnach hätte die Umstrukturierung des österreichischen Gesundheitssystems seit Jahrzehnten unerfüllt auf der politische Agenda vorangegangener Regierungen gestanden.

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Seit den frühen 1960er- Jahren sei das Vorhaben seitens der machthabenden Regierungen aus Angst vor Veränderung stets verworfen worden. Äußerungen der aktuellen Gesundheitsministerin Hartinger- Klein zufolge werden die Grundpfeiler des bisherigen System weiterhin aufrechterhalten.
Die Themenkomplexe “ Selbstverwaltung“, “ Pflichtversicherung“ sowie “ Solidarsystem“ blieben von den Veränderungen unberührt. Beitragserhöhungen als direkte Konsequenz der Reformierung schließt Hartinger- Klein während ihrer Amtszeit grundsätzlich aus.
Welche Änderungen birgt die Maßnahme?
Im Rahmen der Maßnahme werden die bisherigen 21 Sozialversicherungsträger auf 5 reduziert, wodurch eine ganzheitliche Koordination und Vereinheitlichung der Träger ermöglicht wird. Die Versicherer verfügen deshalb ab 2020 lediglich über 5 Generaldirektoren.
Gleichzeitig erfolgt eine Zerschlagung des Hauptverbandes der einzelnen Sozialversicherungsträger. An dessen Stelle tritt ein Dachverband mit rotierendem Vorsitz. Demnach übernehmen ab 2020 die 5 Obleute der Träger abwechselnd für jeweils ein einjähriges Intervall die Leitung des Dachverbandes.
In den 9 Länderkassen teilen sich Arbeitgeber – bzw. Arbeitnehmervertreter im Halbjahresrhythmus den Vorsitz. Zentraler Aspekt der Reform ist die Verschmelzung der österreichischen Gebietskrankenkassen. Die “ ÖGK“ (Österreichische Gesundheitskasse) ersetzt die früheren neun Gebietskassen.
In ihrer Funktion als einheitliche Stelle, die sämtliche Beiträge einhebt, besitzt die “ ÖGK“ die absolute Personal- und Budgethoheit. Neben der “ ÖGK“ existiert mit der “ BVAEB“ ab 2020 eine ganzheitliche Versicherung für Beamte sowie Beschäftigte in der Eisenbahnbranche und im Bergbau.
Ergänzend bestehen ab 2020 mit der “ SVS“ eine Gesundheitskasse für Bauern und Unternehmer sowie die Pensionsversicherung “ PV“. Mit der “ AUVA“ bleibt die “ Allgemeine Unfallversicherungsanstalt“ trotz der Umstrukturierung erhalten. Die Maßnahmen stärken die Position der Arbeitgeber, die nachhaltig mehr Gewicht bekommen.
Die Anzahl der Funktionäre wird von einem Volumen von 2000 auf 480 gesenkt. Zusätzlich greifen Regelungen, die die Zahl der Gremien von 90 auf 50 minimiert. Die Regierung sichert den im Jahre 2018 28000 Angestellten der Sozialversicherungen eine “ Jobgarantie“ zu.
Der Personalabbau bei den Gesellschaften soll ausschließlich über Nichtnachbesetzungen und Pensionierungen erreicht werden. Ein Stellenabbau ist laut Zusicherung von ÖVP und FPÖ ausgeschlossen. Intention der Regierung ist eigenen Aussagen zufolge die bisherigen überhöhten Ausgaben für Sozialversicherungsfunktionäre zu drosseln und diese vermeintliche “ Funktionärsmilliarde“ für die Patienten einzusetzen. Sozialversicherungen prangern aufgrund dieser provozierenden Aussagen den Populismus der Regierungsparteien an.
Privatkrankenanstalten, die als essentielle Säule des österreichischen Gesundheitssystems gelten, erhalten im Zuge der Neustrukturierung eine Angleichung der Leistungsabgeltung. Vor Inkrafttreten der Reform bekam ein Privatspital in Relation zu öffentlichen Kliniken für jeweils identische Leistungen weniger Geld. Der Präsident des “ Verbandes der österreichischen Privatkliniken“ sieht die Reform deshalb als Instrument zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen zwischen öffentlichen Kliniken und privaten Spitälern.
Risiko für generelle Selbstbehalte schwillt dauerhaft an
Die Umstrukturierung des Gesundheitsystems erleichtert prinzipiell die Etablierung von Selbstbehalten. Recherchen der “ Oberösterreichischen Nachrichten“ im Oktober 2018 ergaben, dass die Verschmelzung der Sozialversicherungsträger an einem Wegfall der zugehörigen Ausgleichsfonds gebunden ist.
Dieser Prozess kostet die Kassen mehrere 100 Millionen Euro und könnte den direkten Bedarf nach neuen Einnahmen auslösen. Sozialverbände und Gesundheitsexperten warnen aufgrund dessen vor Leistungskürzungen, um die wegfallenden Gelder ausgleichen zu können.
Gemäß den Gesetzesregelungen der Regierung ist für die Einführung von Selbstbehalten, die im Rahmen von Konferenzen des neu eingeführten Dachverbandes beschlossen werden, kein einstimmiges Votum notwendig. Sofern die erste Abstimmungsrunde in keinen gültigen Beschluss mündet, sind in der Praxis sieben von zehn gültigen Stimmen ausreichend, um Selbstbehalte einzuführen.
Die früheren Gebietskrankenkassen, die zur “ ÖKG“ zusammengefügt werden, verfügen innerhalb des Dachverbandes über zwei Stimmen. Zusätzlich entfallen jeweils zwei Stimmen auf die anderen Träger. In der Summe forciert die Reform eine Diskrepanz bezüglich der Konzentration zwischen Dienstgebern und Arbeitnehmern im Dachverband. Ab 2020 besitzen die Arbeitgebervertreter eine tatsächliche Mehrheit innerhalb des Konstruktes. Auf Basis der Reform kann die Etablierung von Selbstbehalten gegen den Willen der einzelnen Gebietskrankenkassen erzwungen bzw. beschlossen werden.
Etwaige Defizite in den Kassen erhöhen zusätzlich das Risiko für generelle Selbstbehalte. Temporär auftretende Phänomene wie beispielsweise eine akute und flächendeckende Grippewelle, rechtfertigen laut Regelungen des Dachverbandes vermeintlich die Erhebung von Selbstbehalten.
Albert Maringer; Vorsitzender der “ Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse“, prognostiziert dass ab 2020 unmittelbare generelle Selbstbehalte zu erwarten sind. Diese werden nach Meinung Maringers kumuliert bei Kernleistungen der Krankenversicherungen in Erscheinung treten.
Bisher müssen Versicherte der neun Gebietskassen bei derartigen Kernleistungen keine Selbstbehalte entrichten. Beamte, Eisenbahner, Selbstständige und Bauern sind aktuell zu der Leistung von Selbstbehalten in unterschiedlicher Größenordnung verpflichtet.
Das Sozialministerium schaltet sich beschwichtigend in die diesbezüglichen Diskussionen ein und verweist auf die zugehörige Zustimmungspflicht der Sozialministerin. Hartinger- Klein versichert, dass die Einführung von Selbstbehalten für “ ÖGK- Versicherte“ unter ihrer Herrschaft nicht vorgenommen werden wird. Nach Ablauf der Legislaturperiode könnte sich diese Tatsache daher ändern und Selbstbehalte tatsächlich wahrscheinlich werden lassen.
In den Gremien der Gebietskrankenkassen herrschte bisher ein Verhältnis von 4 : 1 zugunsten von Arbeitnehmer- zu Unternehmer- Vertretern. Im Zuge der Reform erwerben die Unternehmer die Hälfte der Entscheidungsmacht in der “ ÖGK“. Die Arbeitgeber besitzen in der Folge 50 % der Entscheidungsmacht über die Gelder der Arbeitnehmer und können aktiv über die Gesundheitsleistungen der Angestellten entscheiden. Diese Situation steigert ebenfalls die Wahrscheinlichkeit für Leistungskürzungen und Selbstbehalte der Versicherten. Innerhalb der “ ÖGK“ sollen die Neuregelungen zudem die Hürden für einen Arztbesuch anheben.
Reformierung sorgt für “ politischen Zündstoff“
Während Wirtschaft und Regierung das Modell der Krankenkassenreform begrüßen, wertet der frühere Chef des Hauptverbandes Alexander Biach die Dezentralisierung des Hautverbandes als Widerspruch zur Grundidee der Reform.
Die Maßnahmen zur Krankenkassenstrukturreform sollen Anfang des Jahres 2020 abgeschlossen sein. Vertreter der SPÖ warnen vor einer schleichenden Privatisierung des österreichischen Gesundheitssystems, die durch die Reform massiv befeuert wird.
Parallel forcieren die Neuregelungen bedeutende Eingriffe in die Machtverteilung der einzelnen Gremien. Die bisherige Mehrheit von Arbeitnehmer- Vertretern in den Räten von “ ÖGK“ und Pensionsversicherung wird zugunsten der Arbeitgeber ausgehebelt.
Künftig haben beide Parteien zu jeweils gleichen Teilen die Macht in den Gremien inne. Allerdings bestreiten FPÖ und ÖVP, dass diese Entwicklung eine Entmachtung der Arbeitnehmer markiert. Die Wirtschaftskammer bejubelt das subjektiv “ gerechte Machtverhältnis“ der Selbstverwaltungsorgane. Der österreichische Senioren- Rat strebt eine Klage gegen die Krankenkassenreform an.
Ferner verurteilt die SPÖ die Einsparabsichten der Regierung, da derartige Pläne in der Praxis lediglich auf Kosten der Versicherten zu realisieren sind. Die Versprechungen von ÖVP und FPÖ seien haltlos, da das Einsparpotential für die Verwaltungskosten bis zum Jahr 2023 tatsächlich nur bei einem Volumen von rund 500 Millionen Euro liegen würde. Die Ersparnis von einer Milliarde Euro sei demnach unrealistisch und nur über zusätzliche Maßnahmen zu erreichen.
Vorteile und Nachteile der Krankenkassenreform 2019 in Österreich
Vorteile
- Harmonisierung der Krankenkassenleistungen gemäß der Maxime “ gleiche Leistung für gleiche Beitragszahlung“
- Privatkrankenanstalten erhalten eine gerechtere Leistungsabgeltung
Nachteile
- Die Machtposition innerhalb der Gremien und des Dachverbandes wird zugunsten der Arbeitgeber- Vertreter verschoben
- Dienstgeber entscheiden innerhalb der “ ÖGK“ zu 50 % über die Gelder der Versicherten
- Wahrscheinlichkeit für Leistungskürzungen und generelle Selbstbehalte wächst an
- Reform ebnet den Weg zur Privatisierung der Gesundheit
- Hürden für Arztbesuche sollen angehoben werden